Angst vor der Geburt
Macht Krankheit angst? Ist Angst krankhaft?

Angst ist ein Gefühl, dass wohl jedem Menschen bekannt ist.
Trotzdem ist es sehr schwer, den Begriff der Angst allgemeingültig zu formulieren. "Angst", so heißt es im Deutschen Wörterbuch von J. und W. Grimm, "ist nicht bloß Mutlosigkeit, sondern quälende Sorge, ein zweifelnder, beengender Zustand überhaupt."

Mit dieser Begriffsbestimmung sind bereits drei wesentliche Sachverhalte angesprochen:

  1. die subjektive Gefühlsqualität (quälende Sorge)
  2. der objektive Sachverhalt (beengender Zustand)
  3. die daraus resultierende Folge (mehr als Mutlosigkeit)

Def.: Bertelsmann Lexikon
Angst: ...unbestimmtes, oft grundloses Gefühl des Bedrohtseins. In der Psychoanalyse wird Angst als Trennungsangst (des Säuglings von der Mutter) bestimmt. Angst kann - wie andere Affekte - ins Gegenteil umschlagen, z.B. in Aggression. Angst wird auch als ein "Gefahrenschutzinstinkt" erklärt. Bei der Mannigfaltigkeit der Angstzustände, von der schleichenden bis zu panischen Angst, ist eine eindeutige Erklärung aller Phänomene der Angst nicht möglich...

Def.: Päd. Lexikon; Bd. 1
...vitales, verschieden graduiertes Grundgefühl, beruhend auf Instinktabschwächung, aus unbewusster Tiefe aufsteigend. Angst befällt den Menschen. Körperliche Begleiterscheinungen... Positive Angst (Kretschmer) im Sinne der Abwehr sowie beim Gegenangriff (Angst beflügelt).


Furcht:
Im Unterschied zur Angst ist die Furcht objektbezogen, sie bezieht sich auf eine bestimmte Bedrohung, der durch Flucht oder Aggression bzw. durch Gegenwehr begegnet werden kann.

Ängstlichkeit:
Überdauernde Bereitschaft, Situationen als angstauslösend zu erleben und entsprechend zu reagieren. Ängstliche Menschen haben eine starke Veranlagung oder Neigung Angst zu empfinden.

Phobie:
Eine zwanghaft auftretende, unbegründete Furcht vor Situationen und/oder Objekten; z.B. Agoraphobie, Claustrophobie...


Entwicklungspsychologische Sicht:

Ein kurzer Einblick in die Entwicklungsgeschichte unserer Ängste:
Angst tritt bereits sofort nach der Geburt eines Kindes auf - Primärangst d.h. die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein an die Umwelt wird realisiert. Im ersten Lebensjahr scheinen plötzliche laute Geräusche , Schmerz, das Gefühl zu fallen , Blitze und Schatten angeborene Reize für Angst zu sein. Mit Vergrößerung des Wahrnehmungsbereiches ergeben sich auch zusätzliche Angstreize. Ab dem 2. Lebensjahr kommen die Angst vor der Dunkelheit und dem Alleinsein, vor Schmerzen, die Angst vor Albträumen, Räubern und Tod, vor Tieren, unbekannten Objekten, Situationen und Personen hinzu.


Reaktionen sind Schreien, Anklammern an die Mutter, Abwenden, Weglaufen, suchen nach Sicherheit und auch sprachliche Mitteilung. Ca. ab dem 3. bis 4. Lebensjahr zeigen Kinder gezieltes Vermeiden der Angstreize und sie unterdrücken auch Signale der Angstreaktion. Später zeigen Kinder auch Angst bei Anzeichen der Furcht von anderen, bei Bedrohung, Verletzung, Unfall und Feuer. Die Angst bei Dunkelheit, Alleinsein, vor Albträumen, Tod und Schmerz nimmt weiter zu, während die Angst vor Blitzen, Schatten, unbekannten Objekten Situationen und Personen, vor lauten Geräuschen abnimmt.

Die Entwicklung der Ängste findet hauptsächlich in den ersten Lebensjahren statt, doch jede Entwicklungsphase im Leben des Menschen weist ihre typischen und vor allem "normalen" Ängste auf z.B. Angst vor dem Älterwerden, Verantwortung, die Angst bestimmten Anforderungen nicht gewachsen zu sein und die Angst vor dem Tod. ...

Viele bekannte Psychologen verfassten Angsttheorien, unter ihnen z.B.
Freud (Instanzenlehre), Lazarus (Eine kognitive Theorie), Schachter (kognit., physiolog. Emotionstheorie), oder Liebhart (Attributionstheorie). Sie alle versuche zu erklären was Angst ist, wie sie entsteht und wie man damit umgehen kann.

"Normale" Angst ist nicht krankhaft, sondern eine gesunde und notwendige Reaktion unseres Körpers auf Reize und Einflüsse. Angstreaktionen sind Schutzreaktionen die den Körper in Alarmbereitschaft versetzen.
Krankhafte Angst ist ein nicht wenig verbreitetes Problem unserer Gesellschaft - diese Angst macht definitiv krank, im körperlichen wie im psychischen Sinn !!!

Bei der krankhaften Angst ist es jedoch so, dass die natürlichen körperlichen und geistigen Abwehrfunktionen wie gelähmt sind; ein weiteres Merkmal der krankhaften Angst ist, dass sie scheinbar grundlos auftritt, extrem übermäßig oder gar nicht ausgeprägt ist.


Angst ist eine der häufigsten psychischen Störungen; unter den Betroffenen sind weitaus mehr Frauen als Männer und etwa 10 % aller Betroffenen bedürfen ärztlicher Behandlung.

Selten liegt der Erkrankungsbeginn jenseits des 45. Lebensjahres.
Am verbreitetsten ist die Angst vor geschlossenen Räumen (Claustrophobie), sie wird jedoch relativ selten psychiatrisch behandelt; Panikattacken hingegen sind zwar relativ selten, müssen aber nahezu immer behandelt werden.

Eine körperlich bedingte Bereitschaft, mit Angst zu reagieren, kann ebenso zu den Ursachen einer Angsterkrankung gehören wie ein besonders belastendes Lebensereignis oder eine lang andauernde alltägliche Stresssituation.

Eine ausgeprägte Phobie ist in der psychoanalytischen Theorie das Resultat eines Abwehrvorgangs: Bewusstseinsinhalte, die Angst erzeugen, werden verdrängt. Die ursprüngliche Angst wird nicht nur unterdrückt und unbewusst gemacht, sondern sie wird verschoben, auf eine konkrete äußere Situation übertragen. Der Psychoanalytiker Mentzos formuliert treffend: "Aus der inneren Gefahr wird eine äußere konstruiert; eine Gefahr, die den Vorteil hat, dass sie eben leicht vermieden werden kann."

Als Folge einer Phobie können Vermeidungsverhalten, zunehmende Einengung des Handlungsspielraumes oder Selbstmordgefährdung auftreten. Der Kranke empfindet seinen Angstanfall als überaus unangenehm und versucht in der Folge, alle angstauslösenden Situationen zu meiden. Es entsteht die Phobophobie - die Angst vor der Angst - ein Teufelskreis zwischen Vermeidung und Befürchtung.


Tokophobie
EINE UNERGRÜNDBARE FURCHT VOR DER GEBURT !

Angst vor der Geburt = ganz normal!

Zu allen Zeiten sahen Frauen der Geburt mit gemischten Gefühlen entgegen: Freude, Aufregung, Angst. Denn lange Zeit war die Geburt das bestgehütete weibliche Geheimnis, über Einzelheiten sprach man nicht. Dass unsere Urgroßmütter Schmerzen stets heroisch annahmen und sich im seligen Vertrauen auf Gott und die Hebamme auf die Stunde X freuten dürfte ein Mythos sein.
Heute ist die Geburt ein zumeist geplanter, bewusst und aktiv erlebter Akt. Nie waren Schwangere besser informiert, vorbereitet und betreut.

Der psychische Hintergrund:
Nicht selten ist die Psyche schuld an körperlichen Ängsten: ein brüchiges weibliches Identitätsgefühl und Selbstbewusstsein, nicht eingestandene Unsicherheiten gegenüber der Mutter-Rolle und ihrer Auswirkung auf die Partnerschaft.

Schwangerschaft und Gebären rühren an den Grundfesten unserer Psyche. Oft kommen Frauen dadurch ihren Müttern näher, ebenso aber werden elementare Konflikte wiederbelebt. Neid, Konkurrenzgefühle, verleugnete aggressive Impulse, der geheime Wunsch, sie zu übertrumpfen, Ängste, ihr gleich zu werden oder auch zu versagen.

Immer häufiger scheint es, ist die Angst vor der Entbindung heute größer als die Vorfreude auf das Kind. In den USA und Canada bitten viele Frauen um eine Sectio - aus Furcht vor der Schmerzen, obwohl in diesem Falle die Schmerzen einen erst erwarten, wenn man sein Kind bereits in Händen hält.
Während so ein Eingriff in Österreich nur auf ärztlichen Entschluss und aufgrund bestimmter Indikationen erfolgt, kommt in einigen amerikanischen Kliniken bereits jedes zweite Kind per Operation zur Welt.

In England wurde im Dezember 1999 die erste Studie veröffentlicht über Frauen, die unter dem leiden, was Fachleute "Tokophobie" nennen - die überwältigende Angst vor der Geburt, welche die Schwangerschaft zur Qual macht, begleitet von Panikattacken und Depressionen:

Tokophobie ist eine intensive Furcht oder Todesangst die manchmal sogar dazu führt, dass Frauen ihren sehnlichsten Wunsch ein Kind zu bekommen aufgeben und sich ihrer Angst fügen.
Eine Studie über 26 Frauen, die unter diesen Umständen leiden wurde in der Januarausgabe des British Journal of Psychiatry veröffentlicht. Diese beinhaltet, dass Tokophobie: Auf die Fälle für die Studie wurde man durch die Geburtshelfer in den West Midlands sowie durch die Psychiater, spezialisiert auf die Mutter-Kind-Einheit, vom Queen Elizabeth Psychiatric Hospital in Birmingham verwiesen. Diese wurden über einen Zeitraum von 2 Jahren in ihrem Heimatumfeld von demselben Psychiater beobachtet, der aber nicht der behandelnde Arzt war.

24 Frauen der Studie waren verheiratet und 24 hatten ihre Kinder von ihrem Partner. Zu unterscheiden sind primäre und sekundäre Tokophobie:

Acht der Frauen hatten aufgrund primärer Tokophobie schreckliche Angst vor der Geburt und wurden bereits im jugendlichen Alter schwanger. Ihre sexuellen Beziehungen waren alle normal, doch das Thema Verhütung war immer sehr belastend für sie. Vier dieser Frauen planten ihre Schwangerschaften ungeachtet ihrer enormen Ängste, zwei von ihnen hatten den sehnlichsten Wunsch Mutter zu sein, wodurch sie es sogar schafften, dass ihre Furcht überwunden, jedoch nicht gelindert werden konnte.

Die meisten Frauen mit primärer Tokophobie wollten unbedingt eine Entbindung durch Sectio, vier von ihnen gelang dies. Die Bonding-Phase war sehr gut und sie erfreuten sich bester psychologischer Gesundheit. Drei Frauen hielten gegen ihren Willen bei der vaginalen Geburt durch, alle von ihnen bekamen eine Wochenbettdepression, zwei litten an den Symptomen von PTSS und zwei hatten ein gehemmtes, bzw. verzögertes Bonding mit ihrem Kind.

Sekundäre Tokophobie tritt nach traumatischen oder stressigen Geburten auf. 14 Frauen der Studie entwickelten eine Angst nach der vorangegangenen Geburt. Ihr Dilemma war es, dass sich die Familie unvollkommen fühlte, sie jedoch bei dem Gedanken an eine erneute Geburt beinahe entsetzt waren. 13 Frauen setzten mit weiteren Schwangerschaften fort, von diesen 13 erlitten 3 eine Fehlgeburt (und fühlten sich danach sogar erleichtert, da die Geburt somit vermieden werden konnte). Alle 13 Frauen waren extrem besorgt während ihrer Schwangerschaft. Zu erwähnen ist auch eine ungewöhnlich hohe Rate an Hyperemesis gravidarum.

11 Betroffene dieser Studie arrangierten eine Sectio; 1 hatte eine erfolgreiche vaginale Geburt und gute psychologische Resultate, die anderen litten an postnataler Depression, PTSS und Bondingschwierigkeiten.

4 Frauen entwickelten Tokophobie als Folge von Depressionen in der Frühschwangerschaft und waren der festen Überzeugung, sie seien unfähig ihr Kind zu gebären - wenn es dann soweit sein sollte, würden sie sterben! Zwei die versuchten die Schwangerschaft zu beenden wurden psychologisch betreut und erholten sich wieder. Eine Frau, die gut auf die Therapie mit Antidepressiva ansprach arrangierte eine Entbindung per Kaiserschnitt und hatte infolgedessen mit ihrem Kind eine gute Bondingphase. Im Gegensatz dazu eine andere Frau, welche die gleiche Therapie ausschlug und auch eine Sectio ablehnte durchlebte eine traumatische vaginale Entbindung, hatte eine Wochenbettdepression und fühlte sich "losgelöst" von ihrem Kind.

5 Teilnehmerinnen berichteten über sexuellen Missbrauch in der Kindheit, 3 weitere über brutale Vergewaltigung. Psychologen kommentieren, dass sexueller Missbrauch in engem Zusammenhang mit der routinemäßigen gynäkologischen Untersuchung steht, verbunden mit primärer Tokophobie sowie Geburtsangst in Folge von Depression. Das Trauma sein Kind auf normalem Wege gebären zu wollen kann die Erinnerungen daran wiederaufleben lassen sowie zu sekundärer Tokophobie beitragen.

2 Frauen der Studie beendeten ihre Schwangerschaft, da sie mit dem Gedanken an die Geburt nicht fertig wurden, obwohl beide Babies Wunschkinder waren. Dies kann die Folge von fehlender fachlicher Kompetenz und Aufmerksamkeit sein, als auch der unzureichende Zugang zu dementsprechender Literatur.


Ausgearbeitet von Flurina Nickles, Barbara Pribil im Mai 2001
Hebammenakademie Linz, Jg. 99-02