Du sollst Dein Kind annehmen lernen!?
Über die unüberlegten Aussagen der Fachleute

von D. Wolf-Stiegemeyer

Viele Eltern eines mit Behinderung lebenden Kindes kennen den wohlgemeinten Ratschlag von Ärzten: "Sie müssen lernen Ihr Kind anzunehmen" oder "Wenn Sie ihr Kind erst einmal angenommen haben, wird alles leichter."
Wieso muß ich mein Kind "annehmen"? Die Nachbarn meiner Eltern haben vor Jahren ein Kind angenommen, sprich: adoptiert. Soll ich mein kleines Baby adoptieren? Es war doch nie fort von mir! Neun Monate haben wir die Schwangerschaft gemeinsam erlebt. Ich spüre doch auch jetzt die Verbindung zwischen diesem kleinen, hilflosen Wesen und mir. Ich soll mein Kind annehmen, wo es doch zu mir gehört?
Auch wenn es behindert ist, so ist es doch mein Kind! Verstehen die Fachleute nicht, daß ich es liebe? Ich bin traurig, habe Angst, aber eins ist sicher: Ich liebe es!
Ich muß nicht mein Kind annehmen lernen, sondern meine neue Lebenssituation, die doch so ganz anders ist, als wir es uns vorgestellt haben. Ich muß lernen meine vielen schweren Gefühle anzunehmen!
Warum sagen die Ärzte ich soll mein Kind annehmen lernen? Damit reden sie mir indirekt ein, daß ich keine Verbindung zu ihm habe, daß ich es ablehne. Das stimmt doch nicht! Ich wehre mich gegen den Schicksalsschlag, gegen das harte Leben, das mir bevor steht, gegen die Behinderung, aber nicht direkt gegen mein Kind als Person!
Vielleicht haben ja diese anderen Menschen Probleme mein Kind so anzunehmen?! Da brauchen diese ihre Gefühle und Gedanken doch nicht selbstverständlich auf mich, die Mutter zu übertragen!
Es wäre so hilfreich, wenn Ärzte, Therapeuten und Pädagogen mit mir über meine Ängste, Nöte, Schmerzen und Sorgen sprechen würden, statt mir fehlende Annahme meines behinderten Kindes zu unterstellen.
Diese Aussage macht mich ratlos; gibt mir das Gefühl, etwas nicht richtig zu machen. Aber keiner kann diese Aussage mit Inhalt füllen; kein Arzt oder Therapeut kann sagen, was das jetzt konkret heißen soll.
Ich kann nur alle Fachleute bitten, solche üblichen aber unbedachten Äußerungen zu unterlassen und ihre eigene Einstellung zu behinderten Menschen und deren Angehörigen zu überdenken.
Solche Aussagen tragen nicht zu einer besseren Verbindung zwischen Mutter und Kind bei, sondern bergen die Gefahr in sich, eine Blockade aufzubauen, die vorher nicht bestand.
Es wäre schön, wenn die Fachleute auf die Worte und Gefühle der Eltern hören könnten; wenn sie den Mut aufbringen, auch diese schweren Gefühle anzunehmen. Es sind die berechtigten und tatsächlichen Emotionen der Mütter und Väter. Diese sicherlich gutgemeinten aber unüberlegten Floskeln, die den in ihrer gegenwärtigen Situation geschwächten Eltern entgegenprallen, vermögen diesen etwas zu suggerieren, das ihnen überhaupt nicht entspricht. Es kann sie nur noch mehr verwirren. Es wäre wünschenswert, daß die Fachleute - in ihrer sicherlich auch nicht einfachen Situation - lernen, mit dem Herzen zuzuhören! Dadurch können sie dazu beitragen, daß Mütter und Väter ihr Schicksal annehmen lernen, denn das Kind braucht nicht angenommen zu werden, denn es gehört schon zu ihnen!

D. Wolf-Stiegemeyer
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