Sexuell traumatisierte Frauen
Ansätze für die Hebammenarbeit


Selbstbildnis einer sexuell missbrauchten Frau
(aus dem Buch "Nicht mit uns")


von Edith Winzig

Traumatische Erfahrungen gehen weit über die Grenzen des Erträglichen hinaus, sie sind so schrecklich, dass sie aus dem Bewusstsein verbannt werden. Traumatische Erfahrungen sind im wahrsten Sinne des Wortes unsäglich. Dies trifft umso mehr zu, wenn das Trauma ein sexuelles ist. Sexualität als Mittel der Machtausübung verleiht der Gewalt etwas geradezu Intimes. Weder die Betroffene noch Bezugspersonen wagen es, direkt zu fragen, was denn passiert sei. Die Scham ist zu groß - auf beiden Seiten. Wenn Frauen in eine Beratungsstelle kommen, können sie das Wort Vergewaltigung oder sexueller Missbrauch oft kaum aussprechen. Erschwerend kommt hinzu, dass beides noch immer mit dem Mythos der angeblich möglichen Mitschuld des Opfers behaftet ist. Das verstärkt die Schuld - und Schamgefühle der Opfer immens und bringt sie schließlich ganz zum Schweigen. Für sie ist es eine große Erleichterung, in der Beratungsstelle einen Ort gefunden zu haben, wo ihnen geglaubt wird und sie nicht verurteilt werden.

Die Symptome, die Opfer von Vergewaltigung, sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt aufweisen, sind die traumatisierter Menschen. Sie entsprechen im Wesentlichen denen von Kriegsopfern.

Definition und Einteilung von Trauma
Die Definition nach der sog. DSM-IV, dem Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrie Gesellschaft, lautet:
Traumen sind potenzielle oder reale Todesbedrohungen, ernsthafte Verletzungen oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit bei sich oder anderen, auf die mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit und Schrecken reagiert wird.

Traumen lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten einteilen.

Verursacher:
Von Menschen verursachte traumatische Ereignisse
Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung, familiäre Gewalt, zivile Gewalt wie Geiselnahme, Entführung, kriminelle Gewalt, Vergewaltigung, Folter, politische Haft, Massenvernichtungen

Auslöser:
Naturkatastrophen, Traumatisierung bei beruflichem Einsatz
Vulkanausbruch, Hurrican; Reaktorunfall wie z.B. Tschernobyl; Feuerwehreinsatz, z.B. nach dem ICE-Unfall in Eschede; Grubenunglück, Verkehrsunfall

Dauer:
Kurz dauernde traumatische Ereignisse, z.B. Naturkatastrophen, Unfälle, technische Katastrophen, einmalige Überfälle u.a.
Länger dauernde, wiederholte Traumen, z.B. Geiselhaft, Kriegsgefangenschaft, wiederholte sexuelle oder körperliche Gewalt, Vergewaltigungen

Sexualisierte Gewalt gehört demnach zu den von Menschen verursachten, lange dauernden Traumen. Besonders bei dieser Art Trauma sind die Folgen stark beeinträchtigend und chronisch.

Frauen und Mädchen, die vergewaltigt oder missbraucht werden, erleben sich als vollkommen ohnmächtig, die Situation als auf das Schwerste demütigend und erniedrigend. Sie stehen unter massiver panischer Angst. Angst, verstümmelt, schwer verletzt oder getötet zu werden. Die Tat wird als ein Terrorakt erlebt, bei der der Täter das Ziel hat, die Frau/das Mädchen zu entwerten, zu beherrschen und bis zur völligen Hilflosigkeit zu erniedrigen.
Um das zu überleben, reagieren die Betroffenen mit unterschiedlichen Mechanismen, die während der Gewalttat überlebenswichtig sind, danach aber weiter bestehen und das Leben der Betroffenen massiv beeinträchtigen können.

Beschwerden und Symptome, die länger als einen Monat nach dem Trauma fortbestehen, werden als "post-traumatische Belastungsstörung" bezeichnet und in drei Hauptkategorien eingeteilt:

Hyperarousal. Der Körper befindet sich in ständigem Alarmzustand, so als könne die Gefahr jeden Moment wiederkehren. Das vegetative Nervensystem ist chronisch erregt. Das führt zu Angstsymptomen, Schlafstörungen, Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit, Konzentrationsstörungen und vielem anderem.

Intrusion. Erinnerungen oder Erinnerungsbruchstücke treten spontan auf und kehren ungewollt immer wieder. Dies kann als plötzliche Rückblende im Wachzustand geschehen oder im Schlaf als Alptraum. Alltägliches, was mit dem traumatischen Ereignis verknüpft ist, wird zum Auslöser für Erinnerungsattacken. So dringt das Trauma immer wieder unkontrolliert und mit extremer emotionaler Intensität in das Leben der Betroffenen ein. Das führt nicht selten zu großen Lebenseinschränkungen, Isolation oder emotionaler Verarmung.

Konstriktion. Gedanken, Gefühle und Situationen, die an das Trauma erinnern, werden durch verschiedene Verhaltensweisen vermieden. Dieser Versuch, übermächtige Emotionen abzuwehren, führt zu einer Beeinträchtigung der Lebensqualität und verlängert das Leiden.

Die Symptome sexuell traumatisierter Frauen
Veränderte Einstellung zum Körper
Der Körper wird als etwas Getrenntes erlebt, als Fremdes oder Beschmutztes. Dies kann zu Vernachlässigung und Ekel gegenüber dem eigenen Körper, zu Waschzwang oder Gleichgültigkeit führen.

Ängste
Sie können in jeder denkbaren Form auftreten: Angst vor dem Alleinsein, vor Dunkelheit, bestimmten Männertypen oder Männern im Allgemeinen, Angst, verrückt zu werden, Angst in geschlossenen Räumen, vor Menschenmassen usw.

Psychosomatische Beschwerden
Sie sind in der Regel sehr beeinträchtigend und reichen von unspezifischen Unterleibsbeschwerden, Essstörungen, Asthma, Migräne bis hin zu Diabetes und massiven Kreislaufstörungen.

Erinnerungsattacken ("flashbacks")
Diese plötzlichen, heftigen Erinnerungen an die Gewaltsituation sind emotional so intensiv, dass die Betroffene das Gefühl hat, das Trauma noch einmal zu erleben.

Alpträume
Sie können jahrelang wiederkehren. Die Alpträume sind oft verzerrt und laufen meist immer nach dem gleichen Muster ab.

Übermäßige Wachsamkeit
Die Betroffenen leben in dem beständigen Gefühl, anderen nicht trauen zu können.

Aktivitäts- oder Situationsvermeidung
Was an das Trauma erinnern könnte, wird vermieden. Wer oral vergewaltigt wurde, kann möglicherweise keine breiigen Speisen mehr essen oder ekelt sich vor Schleimigem. Manche Frauen gehen zu der Tageszeit, zu der das Trauma geschehen ist, nicht mehr aus dem Haus. Viele Frauen ziehen um, v.a. wenn die Tat in ihrer eigenen Wohnung begangen wurde.

Entfremdungsgefühl
Betroffene haben das Gefühl, nicht mehr dazu zu gehören. Sie fühlen sich selbst von engen Vertrauten entfremdet, weil diese nicht das gleiche traumatische Ereignis erlebt haben.

Interessenverminderung
Schlafstörungen
Erhöhte Reizbarkeit
Konzentrationsschwierigkeiten
Übermäßige Schreckreaktionen

Interventionen durch Hebammen
Schwangerschaft und Geburt können für betroffene Frauen äußerst belastend werden, wenn sie hierdurch die traumatisierende Situation erneut erleben. Hebammen können einiges dazu tun, um eine erneute Traumatisierung zu vermeiden.

  1. Sprechen Sie im Geburtsvorbereitungskurs und beim Anamnesegespräch das Thema sexualisierte Gewalt an.
  2. Legen Sie Informationsmaterial und Adressen zum Thema sexualisierte Gewalt aus.
  3. Begegnen Sie den Frauen mit Geduld und Verständnis.
  4. Beziehen Sie die Frau in alles ein, was Sie gerade mit ihr tun. Eine unvermittelte Berührung kann Körpererinnerungen und "flashbacks" auslösen.
  5. Erlauben Sie der Frau explizit, Ihnen zu sagen, wenn es ihr zu viel wird. Unterbrechen Sie die Untersuchung dann zuverlässig.
  6. Fragen Sie immer wieder nach, ob es so in Ordnung ist oder ob die Frau vielleicht noch etwas braucht, um sich besser zu fühlen.
  7. Wochenbettdepressionen oder das Ablehnen des Stillens können ihre Ursache in dem vergangenen Erlebnis haben. Daraus können Schwierigkeiten resultieren, eine Beziehung zum Kind aufzubauen.

Hebammen sollten ein offenes Ohr für das haben, was die Frauen ihnen erzählen. Selbst wenn eine Geschichte unglaubwürdig erscheint: Lassen Sie sie trotzdem so stehen. Traumatisierte Frauen brauchen in erster Linie Mitmenschen, die zuhören, ihnen glauben und sie verstehen. Selbst wenn das, was die Frau erzählt, nicht stimmen sollte, zeigt es, dass sie in großer innerer Not ist und Unterstützung braucht. Allerdings: In zehn Jahren Frauennotrufarbeit ist es mir noch nicht begegnet, dass sich die Schilderung einer Frau als falsch herausgestellt hat.

Edith Winzig ist Heilpraktikerin und Dipl.-Sozialpädagogin in Worms