Die Ungeborenen
Vom Untergang der Geburt im späten 20. Jahrhundert

Ein Aufsatz von Frau Prof. Barbara Duden
Dozentin für Soziologie der Universität Hannover


Bei Gesprächen mit älteren Hebammen traf ich auf einen eigenartigen Widerspruch: Auch erfahrene Hebammen, gewiegte Praktikerinnen in Hausgeburten bis in die 1970er Jahre, sagen, daß ihre Zeit vorbei ist: "Hausgeburt heute? Glaube ich nicht, weil einfach die Zeit nicht mehr da ist, vielleicht auch, weil die Leute anders sind: ... für sie ist Schwangerschaft nichts Normales mehr, die sitzen ja dauernd bei den Ärzten und lassen alles prüfen. Die Einstellung der Leute ist anders geworden …" So spricht eine Hebamme, die noch länger in der Nachkriegszeit in der Gegend von Münster gearbeitet hat. Aber auch eine weit jüngere, erfahrene Klinikhebamme urteilt: "Hausgeburt? Ich glaube nein. Niemand traut sich das mehr zu ... Wissen Sie, die Frauen können ohne ärztliche Anleitung nicht mehr gebären …" Diese Einschätzung will ich zum Ausgangspunkt nehmen, um die Frage aufzuwerfen, ob und wie mit der gründlichen Medikalisierung, Hospitalisierung und Technisierung der Geburt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das, was Geburt war, beseitigt wurde, und zwar so gründlich, dass das historische Wesen der "Geburt" aus der kollektiven Erinnerung verschwunden ist.
Eine derartige Umgestaltung des Bewusstseins von Frauen fordert eine Erklärung, und die ist m. E. in dem Aufkommen eines neuen Mythos zu suchen. Denn was heute als "Geburt" bezeichnet wird, ist unvergleichbar mit dem, was in der Vergangenheit - und das heißt in Resten bis in die Nachkriegszeit hinein - so hieß: dem Kommen eines Kindes im Zusammenwirken von Frauen. Heute ist Geburt ein physiologischer Vorgang, der wegen seines vielfachen und hohen Risikos im Rahmen von medizinischen Prozeduren vor sich gehen muss. Jede dieser Prozeduren soll eine spezifische Form des Risikos mindern. Ich will die These vertreten, dass der Einsatz jeder Prozedur unweigerlich auch als ein "mythopoietisches" Ritual, also als ein überzeugungschaffender Vorgang verstanden werden muss. Und weiterhin, dass diese Prozeduren zusammen eine "Liturgie" ausmachen, durch welche die Entbindung nur mehr als Interaktion des Frauenkörpers mit der technisch gerüsteten Institution gedeutet wird. Der Begriff, das Erlebnis und die Deutung dessen, was "Geburt" war und nicht mehr sein kann, ist mein Thema; und die neuere Forschung zu den Bräuchen, Praktiken und Mythen, die sie umgeben, erlaubt mir Vermutungen über die Historizität der Sache selbst.
Auch die Historikerin tut sich schwer, diese Neubestimmung eines so ursprünglichen Geschehens zu fassen, und das gilt umso mehr für die Frau, die heute schwanger wird und die in der Schwangerenvorsorge mit ihrem "Risiko-Status" vertraut gemacht wird. So weit geht dieser Bedeutungsverlust, dass ich am "Überleben der Geburt" zu zweifeln beginne, also die grundsätzliche Frage aufwerfe, in welchem Sinn der Geburt selbst ein historischer Status zuerkannt werden muss. Denn nur Historisches kann untergehen. Als Historikerin verwundere ich mich an der Gegenwart. Es gibt heute Kinder von Leihmüttern; das ist einstweilen selten, und ich weiß davon nur aus der Zeitung. Wenn ich aber kleine Kinder sehe, lösen die bei mir gelegentlich Verwirrung aus. Ich kann den Eindruck nicht loswerden, dass diese Kinder nie "geboren" wurden. Ich kann nicht umhin, daran zu denken, dass die zehnjährigen Kinder Foeten sind, die an einem Wochentag zwischen 9 und 17 Uhr durch einen Abbruch der Schwangerschaft (die als Geburtseinleitung bezeichnet wird) ihre extrauterine Existenz begonnen haben. Ich frage mich, ob wir dabei sind, uns an das Leben unter ungeborenen Menschen zu gewöhnen, wie schon seit zwei Generationen unter ungestillten. Nach einer theoretischen Fundierung meiner ästhetischen Intuition suche ich hier.
Historiker haben es bisher unterlassen, die Bewußtsein schaffende Funktion der neuen perinatalen Rituale zu untersuchen, und das aus zwei Gründen. Erstens, weil die Besonderheit der traditionellen Entbindung als ritueller Vorgang nur selten zur Sprache gekommen ist, nämlich die Bedeutung schaffende Funktion der somatischen (körperlichen) Interaktion von Gebärender und Gehilfin. Der Vorgang des gemeinsamen Wartens und Tuns, an dessen Ende das Bündelchen in den Händen der Geburtshelferin landete, ging in einem besonderen Grenz-Raum vor sich. Das Wesen wurde abgenabelt, vielleicht gewaschen und der Mutter gezeigt, und in diesem verborgenen Vorgang schon wurde es bedeutungsvoll, bevor es noch in den Haushalt kommen konnte. Der Weg aus der Frauenintimität in den gesellschaftlichen Raum ist uns in seiner vielfachen rituellen Ausprägung durch die Forschung bekannt geworden. Was aber im Schatten blieb, ist die Bedeutung, also der "Mythos", der dem somatischen Vorgang selbst entspringt: das prä- oder proto-rituelle Wesen der Niederkunft.
Zweitens, hat die historische Forschung sich kaum mit der zeitgenössischen technischen Liturgie beschäftigt. Mir scheint, dass jedes der scheinbar risikomindernden Verfahren wie z. B. Ultraschall, kardiotokographische Überwachung des Föten, Wehentropf, Dammschnitt - ganz abgesehen von seiner technischen Wirksamkeit - Ängste, Mythen und Zwangshandlungen schafft: eine Haltung, eine Glaubensform. Dieser Glaube verengt das Verständnis der Geburt auf das mit ihr verbundene Risiko, macht die Schwangere mitverantwortlich für die Risikoverwaltung und damit die Teilnahme der Schwangeren an diesen Zeremonien zur Verpflichtung. Die Anfälligkeit für diese Glaubensform lässt mich verstehen, was die alte Münsteraner Hebamme meint, wenn sie sagt, dass "die Leute anders sind …" Wie sind sie's geworden?

Medikalisierung des Vorganges

Wenn ich die neuere Literatur zur Geschichte der Geburt passieren lasse, so scheinen mir die ersten Schritte zu ihrer "Medikalisierung" recht solide erforscht zu sein. Gute Studien belegen den Rahmen in den Alltagsrituale, Volksglauben und haltungsprägende kirchliche Zeremonien die Niederkunft gestellt haben; wie unterschiedlich in verschiedenen Gegenden und zu verschiedenen Zeiten bis in das 20. Jahrhundert hinein das Bild der wünschenswerten Geburtshelferin geprägt war; wie es zum Gebärhaus kam: seit dem mittleren 18. Jahrhundert als Ausbildungsstätte für männliche Geburtshelfer und zur Hebammenschulung; seit dem späten 19. Jahrhundert als Ort der aseptischen Ordnung; mit dem frühen 20. Jahrhundert als Rüsthaus für zunehmende operative Eingriffe und neuerdings als Anstalt der Vorsorge und Risikobeschränkung. Das Weiterwirken der selbstbewussten Hebamme in der Hausgeburt bis in die Nachkriegszeit hinein ist durch eine Reihe bemerkenswerter Autobiographien belegt, ebenso das Auf und Ab der für rationalen Fortschritt gehaltenen medizinischen Prozeduren. Wir wissen heute, dass gleichzeitig sehr ungleichzeitige, frühere und neuere, vormalige und modernere Typen der "Geburt" über zwei Jahrhunderte nebeneinander bestanden, je nach Landstrich, Konfession, Grad der medizinisch-staatlichen Einmischung. Diese Studien der vielfältigen Geschichte von Medikalisierung aber haben die "Geburt" als jenes historisch einzigartige Ereignis, mit dem jeder Lebenslauf, jeder "bios" beginnt, eher aus dem Blickfeld gerückt. Weitgehend erlauben diese Arbeiten ein Verständnis dafür, wie ein kulturell geprägter Vorgang, der bis vor kurzem unter Frauen stattfand, zum Tätigkeitsfeld der medizinischen Professionen wurde.

Medikalisierung der Mentalität

Bei den Forschungen über die Medikalisierung des letzten Schwangerschafts-Stadiums ist in Umrissen auch deutlicher geworden, wie vormals vielschichtige apotrophäische (Gefahren abwehrende) Rituale durch vorsorgende wissenschaftliche Prozeduren abgelöst worden sind; wie eine grundsätzlich abwartende Haltung der Geburtshelferin einem nie ganz vorhersehbaren Geschehen gegenüber durch den zunehmenden Glauben an seine Beherrschung und Planung überlagert wurde; wie das hoffende Bangen von Mutter und Helferin sich in den letzten Jahrzehnten in Risiko-Kalkulationen aufgelöst hat und als Funktion der abgesicherten Dienstleistungs-Intensität verstanden wird; wie die ethnologisch je andere, aber wohl überall beobachtete vorübergehende Herstellung einer liminalen Sphäre, eines weiblichen Sonderraumes für die Niederkunft, jeden Sinnes beraubt worden ist, seitdem die Gebärende in der Klinik aus Familie, Haushalt und Nachbarschaft ausgeschlossen wurde.
Die Geschichte der institutionellen "Medikalisierung" hat somit auch ein reiches Feld der Geschichte der sozialen Haltungen zum Vorgang der Geburt, zur Gebärenden und zu ihren Helferinnen sichtbar gemacht. In diesem Sinne lässt sich an der Geschichte der Geburt die historische Tiefenstruktur der Modernisierung beispielhaft zeigen. Ein körperliches Tun, das als ethische Handlung unter Frauen verstanden wurde, konnte - unter dem Vorwand seiner rationalen Verbesserung - dem radikalen Monopol der Medizin unterstellt und als Resultat ihrer professionellen Leistung definiert werden. In relativ wenigen Jahrzehnten, endgültig erst in der Nachkriegszeit, verschwand nicht nur die Praxis, sondern selbst die Erinnerung an Brauch und Haltung, in deren Rahmen die Geburt gestanden hatte. Gleichzeitig ist die dienstleistende Verwaltung des Schwangerschafts-Ausgangs gesellschaftlich zum selbstverständlichen Bedürfnis geworden, auf das jede Frau auch einen versicherungsrechtlich verankerten Anspruch haben soll.

Körpergeschichte der Geburt

Nun habe ich seit Jahren versucht, die Geschichte des Gebärens nicht als Institutionen-, Sozial- oder Mentalitätsgeschichte, sondern als integralen Teil der Körpergeschichte zu betreiben. Ich habe den Versuch unternommen, im Zusammenhang mit der Geburt weiter nach dem historisch bedingten Erlebnis des Körpers zu forschen: nach dem "soma" der Mutter und dem "soma" des Kindes. "Soma" ist das griechische Wort für das erlebte eigene "Fleisch", und ich verwende es hier, um nicht objektivierend vom "Körper" zu sprechen. Die Geschichte der traditionellen Geburtshilfe, die Untersuchung der Stadien ihrer Medikalisierung, Hospitalisierung und Versicherung haben mir dazu gedient, das Körpererlebnis der Ent-Bindung als fundamentales Paradigma der historischen ,"Somatik" zu verstehen. Die Geburt selbst steht am Anfang, ist Ur-Sprung des "soma", ist "arché" der Somatik. Sie ist ein ganz unvergleichliches Ereignis für die an ihr beteiligten Frauen. Beim Erkunden dieses Erlebnisses bin ich an eine Grenze gestoßen, deren Darstellung das Anliegen dieses Beitrags ist.
Die Schritte scheinen mir erklärungsbedürftig, mit denen die Geburt - die ursprünglich fest in der kollektiven Kultur der Frauen verankert war - nach und nach zu einem professionell geregelten Unternehmen und schließlich zu einem Akt der Menschen-System-Verwaltung wurde. Denn nur so lässt sich die Unvergleichbarkeit der Geburt vormals, damals, neulich und endlich heute an jenem Ort verstehen, um den es mir als Körperhistorikerin geht: Wie wurde aus einem fleischlichen Geschehen der Sym- und Em-Pathie, das es in dieser Intensität nur unter Frauen gab, ein technisch angeleitetes Hantieren am Frauenkörper, dem die Mutter als notwendige Ressource-Person gegebenenfalls am Schirm zusehen kann?

"Proto-Ritual"

Je tiefer ich mich in die Geschichte des Gebärens einlasse, umso weniger konnte ich mich der Einsicht verschließen, dass der Ursprung des Menschen, mit dessen sozialem Umfeld sich die Geschichte der Geburt bisher beschäftigt hat, nicht jenes Geschehen sein kann, das 1998 mit dem Wort "Geburt" in der Klinik bezeichnet wird. Das Subjekt der Geburt, das in der Niederkunft einer Frau ans Licht kam, und der neugeborene Patient, der in einem programmierten Prozess überwacht produziert wird, sind unverwechselbar. Das Subjekt vormals war ein Bub oder Mädchen. Geburt war die Ur-Sache der Erscheinung ("epiphanie") eines erwarteten Kindes im Rahmen eines sozio-somatischen, eines immer körperlich-sozialen Ablaufs, der, durch Wehen begonnen, in der Abnabelung gipfelte, mit der Nachgeburt und - gelegentlich - mit dem Windeln beendet wurde und unter Frauen stattfand. Geburt war Neubeginn.
Was heute als Geburt bezeichnet wird, ist nicht mehr Neubeginn. Es ist ein kritischer Moment in der Karriere eines schon vorgeburtlich entstandenen Verwaltungsobjektes, eines sogenannten "Fötus". Es ist das Resultat einer Synergie, eines Zusammentreffens von mütterlichem Organismus mit einer Vielzahl von technischen Interventionen. Mit jeder Entbindung beginnt heute die extrauterine Epoche eines zusätzlichen Patienten, dessen Problematik, Bedürfnis-Intensität und Kosten-Veranschlagung schon lange im Mutterpass nachgewiesen werden können. Unvermeidlich impliziert jede klinische Geburt einen Zuwachs der zu betreuenden Bevölkerung um eine Einheit.
In diesem Sinne meine ich, dass die Geburt, in der ein Lebenslauf begann, ihren Status geändert hat, nicht nur der sinngebende Vorgang der Geburt, sondern auch das durch diese Sinngebung zutage tretende Subjekt. Meist wird dabei übersehen, dass nicht nur Welt und Gesellschaft von rituellem Ursprung sind, sondern ebenso die Überzeugung, dass das, was aus einer Frau in die Hände einer anderen gekommen ist, ein wirkliches Kind, ein Bub oder Mädchen sei; dass also die "somatopoiesis", die Fleischwerdung des Menschen, eine Verwirklichung rituellen Ursprungs war; dass der Eintritt in die soziale Welt über diese besondere Sinngebung in einem vorausgegangenen, streng weiblichen "Proto-Ritual" vermittelt wurde.
Wenn ich der art die proto-rituelle Funktion der traditionellen Geburt hervorhebe, so will ich nicht die Bedeutung jener juristisch oder religiös deutbaren Bräuche leugnen, in deren Vollzug nach der Geburt das Neugeborene zum Sohn, zum Angehörigen wurde. Das sind wohlbelegte rituelle Schritte, mit denen aber nicht irgend ein Etwas, sondern ein geborenes Kind in die Gesellschaft aufgenommen wurde. Mir geht es nicht um die soziale Zuerkennung von Verwandschaft oder Status, sondern um die historische Wirklichkeit der Niederkunft selbst und um ihre sinn- und soma-gebende Wirksamkeit. Damit möchte ich zweierlei betonen: dass mit der klinischen Technisierung die rituelle Sinngebung der Mensch-Werdung in der Geburt ebenso verloren gegangen ist wie das Verständnis des Gebärens als ethisches Tun einer Frau: als "etwas was die Frau tun muss - und was dennoch über sie kommt" - wie die Liebe, sagt eine alte Hebamme.
Nur Menschen werden geboren. Mit dieser Einsicht muss jede Kulturgeschichte der Geburt beginnen. Algen teilen sich, der Bambus verläuft in Rizomen, Gingko-Biloba sprosst aus dem abgeworfenen Blatt, Frösche laichen, Katzen werfen, nur der Mensch ist geboren. So faszinierend es für Heidegger gewesen sein mag, sich als "Geworfener" zu fühlen, in der Kulturgeschichte der Geburt geht es um gebürtige Menschen. Die Somatik der Frau in der Geschichte des Westens - im Gegensatz zu der des Mannes - ist so angelegt, dass sie, wenn ihre Zeit gekommen ist, der Hilfe einer anderen Frau bedarf. Das Kind kommt aus dem Schoß der einen in die Hände der anderen. Zur Geburt gehören drei - die Mutter, die andere Frau und das Neugeborene.

Geburt bei Menschen - ein Sonderling

Es hat mich schon oft verwundert, dass es Sozialwissenschaftlern oder Philosophen nicht aufgefallen ist, dass das sonderliche Wesen des Menschen sich in der Geburt als einzigartigem Vorgang manifestiert: Das Gebären ist ein zwischenmenschliches Tun, das jeder ausdrücklichen "Vergesellschaftung" wie Taufe, Wickelung, Aufhebung vorhergeht - und immer unter Frauen vor sich geht. In Mexiko heißt die Geburtshelferin noch heute "co-madrona", Mitmutter. Mütter unterscheiden die Kinder, die mit der "co-madrona" zur Welt kamen, von denen, die nur von der Hebamme entbunden wurden. Das Ethos der Geburtshilfe überlebte trotz aller geburtsmedizinischen Ausbildung und Überwachung weitgehend noch bei den geprüften Hebammen in den ersten zweihundert Jahren der mitteleuropäischen Medikalisierung. Geburt blieb der Prototypus des sinn-schaffenden Geschehens, in dem aus der rituellen Intimität von zwei Frauen ein drittes, ein neues Wesen hervorging. Diese Sinngebung als Lebensbeginn gehört zur Geburt des Menschen wie das Begräbnis zum Ableben: Wenn ein Paläontologe auf Gebeine stößt, dann sind die Spuren von Begräbnis das untrüglichste Zeichen, dass die Knochen von "homo" kommen - von einem, der geboren worden ist und der nicht einfach verendet, sondern verstorben ist.
Ich habe nach "Geburt" in verschiedenen philosophischen und historischen Lexika gesucht. Artikel habe ich in den neueren keine gefunden, bestenfalls Hinweise im Index. Das ist schon deshalb überraschend, weil "Natur" seitenlang untersucht wird. Und "natura a nascitura dicitur", Natur wurde nach dem Gebären genannt. Aller Ursprung wurde mit Geburt verglichen. Aller Anfang war wie Geburt, aber Geburt selbst war nie wie irgendein anderer Anfang. "Nascitura est princeps analogatum" - Geburt war der Ausgangspunkt jeder Analogie vom Anfang. Denn mit der Geburt kommt ein neuer Mensch nicht einfach auf die Welt, sondern zur Welt, nicht in irgendein Revier, ein Terrain oder Milieu, eine Herde oder ein Rudel. Geburt ist Lebensanfang und Sinngebung. Und so wie nur ein Mensch intransitiv "sterben" kann, also seinen eigenen Tod, so konnten nur Frauen ein Kind zur Welt bringen. Keine Kulturgeschichte der Geburt kann daran vorbei, dass Geburt einen ganz einzigartigen Typus, einen Sonderling des historischen Geschehens darstellt.
Wenn ich "Geburt" im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm nachsehe, erscheint sofort eine dieser Eigentümlichkeiten. "Geburt" besagt zwei dis-symmetrische und untrennbar aufeinander bezogene Seiten. Die historische Wortbedeutung bekräftigt also die wechselseitige Bezüglichkeit, die gegenseitige Bedingtheit des Geschehens. Vonseiten der Mutter ist Geburt "partus", der Vorgang, der einen Menschen an das Licht bringt, und vonseiten des Kindes ist Geburt "nativitas", sein Erscheinen, seine Sternstunde, seine Herkunft. Und paradoxerweise entrückt das extrem historische Wesen des mit "Geburt" bezeichneten Geschehens unter Frauen gerade das Erscheinen eines "soma" aus dem Revier der Sozialgeschichte. Der Unterschied zwischen allen Institutionen und diesem gesellschaftlich liminalen, weiblichen sinngebenden Ritual ist es wohl, was die Geburt selbst in diesen blinden Fleck gerückt hat und es erlaubt, sie mit etwas ganz anderem zu verwechseln: der Entbindung heute. Die Geburt als das Erscheinen eines gefährdeten, zarten Geschöpfs, das aus einer ausgegrenzten, auf Frauen beschränkten Domäne heraus hervorgebracht wurde, und ihr moderner Begriff müssen sorgsam unterschieden werden; denn die spätmoderne "Geburt" kann idealtypisch als die Integration eines zusätzlichen Immunsystems in das soziale Makrosystem charakterisiert werden.

Die rituelle Schöpfung des Kyborgs

Mit Bedacht verwende ich dies Wort - "Kyborg". Die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Donna Haraway prägte den Begriff, um die neuartige "Natur" des Menschen als einer Synthese aus Genom und Technik zu fassen. Dieser Begriff ist bisher nicht für ein Verständnis der tiefen Umformung der Geburt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingesetzt worden. Und doch will ich behaupten, dass das klinischtechnisch überwachte Endstadium einer umfassend kontrollierten Schwangerschaft ein historisch neuartiges Zwitterwesen hervorgebracht hat, einen Kyborg. Diese Entkörperung des historischen Subjektes, die innerhalb weniger Jahrzehnte zum Regelfall geworden ist, heischt nach Erklärung. Denn hier wurde schrittweise die intensivste Form der erlebten Verkörperung gesellschaftlich ausgemerzt und der Glaube an den dienstleistungsbedürftigen Menschen zur angeborenen Gewissheit. Geburt wurde zur Produktion eines Kyborgs, der in eine als Biokratie verstandene Gesellschaft passt.
Wir müssen uns fragen: Wie konnte es glaubhaft werden, dass Frauen bei der Geburt fundamental auf Professionelle angewiesen sind? Wie konnte die technische Umgestaltung jeder Geburt unwidersprochen zur "Natur der Sache" werden? Wie lässt sich eine solche neuartige Anfälligkeit von Frauen für Selbstzweifel erklären? Und vor allem, wie kann ich Folgendes verstehen: Auch die meisten erfahrenen Hebammen, die jahrzehntelang ihre Frauen selbstsicher betreut haben, können sich den Glauben an die Macht der Technologie nicht vom Leib halten: "Die Frauen können das nicht mehr." "Gegen Technik und Spezialisten lässt sich nicht ankommen, ... die sind immer besser." "In der Klinik, die hen die Apparät, die hen elles - da ist alles da." Wie lässt sich der abrupte Verlust des Selbstvertrauens dieser im Dienst gealterten Frauen erklären? Oder das fundamentalistische Vertrauen auf die Technik seitens einer ganzen Generation von Schwangeren?
Nur das Verständnis der modernen technisierten Geburt als Ritual, als eine Mythen schaffende Liturgie, gibt mir den Schlüssel zu diesem Bruch. Geschichte hat mich davon überzeugt, dass es im ganzen Geschehen der Geburt nie einen Aspekt gab, der nicht durch seinen Platz in einer rituellen Ordnung bedeutend, sinngebend, überzeugend und damit mytho-poietisch gewirkt hat. Dass also eine Geschichte des Gebärens in allererster Linie eine Untersuchung der "Geburts-Liturgie" sein sollte: Das Hervortreten des Kindes aus dem Schoß der Mutter mit Hilfe der anderen Frau bedeutete Menschwerdung. Und da die Literatur zur Sache den rituellen Aspekt kaum beachtet hat, ist das zeitgeschichtliche Verblassen der Geburt selbst und die Rolle, die bei diesem Schwund die Symbolik der Geburtstechnik gespielt hat, bisher kaum erforscht worden. Dennoch gibt es hin und wieder Einsichten und Untersuchungen, die den wirklichkeitsschaffenden, rituellen Aspekt der "Technisierung der normalen Geburt" hervorheben.

Die Symbolkraft der Technik

"So ängstlicher jemand ist, desto mehr ist er apparategläubig und je mehr selbst-g'sundes Selbstvertrauen 'n Mensch hat, desto weniger ist er apparategläubig. Das ist schwarz-weiß g'sagt, aber es is' was dran." Diese Aussage einer Hebamme ist anrührend und zeugt für ihr Verständnis dieser Frauen. Aber sie verlangt doch eine Ergänzung, denn sie trifft nicht das Wesen des neuen Milieus, in dem Entbindung heute vor sich geht: Geburt wird nicht mehr als eine Gefahr, Gebären nicht mehr als Wagnis und ihr Verlauf nicht mehr als Schicksal erlebt; Gefahr ist zum Risiko umgemodelt, Wagnis zur Kalkulation über die notwendigen Mittel, und die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit einem schmerzlichen und überwältigenden Ereignis gegenüber kann nur ganz oberflächlich mit der Bodenlosigkeit verglichen werden, in die sich eine Schwangere bei ihrer Einwilligung zur Schwangerenvorsorge begibt. Um an diesen Kontrast näher heranzukommen, berufe ich mich auf eine außergewöhnliche Autorin: Marjorie Tew. Sie sagt von sich selbst: "Ich bin weder Arzt noch Hebamme, und die eigene Erfahrung mit dem Gebären lag schon lange hinter mir, als ich 1975 auf das Thema stieß. Spät ins akademische Leben zurückgekommen, hatte ich Medizinstudenten in Nottingham zu unterrichten, in der Abteilung ,community health'." Tew ist als Statistikerin ausgebildet, und es war ihre Aufgabe, die Veränderung der perinatalen Sterblichkeit für Mütter wie für Neugeborene im Laufe des 20. Jahrhunderts mit den gynäkologisch-geburtshilflichen Verbesserungen im selben Zeitraum zu korrelieren. Dabei "entdeckte ich zu meiner großen Verblüffung, dass die gängigen Statistiken die verbreitete und allgemein akzeptierte Hypothese nicht bestätigen. Dass nämlich der Rückgang der Mütter- und Säuglings-Sterblichkeit durch die Hospitalisierung der Geburt verursacht worden ist."
Frau Tew baut ihr Argument auf solide Daten. Beim Lesen lernt man viel über die Brauchbarkeit der Statistik für die Historikerin, aber auch über ihre Verwendung im öffentlichen Leben. Es ist beeindruckend, mit welchen naiven Tricks die Statistik im Parlament, in der Verwaltung und den Ärztekammern immer wieder und wieder wirksam eingesetzt wurde, um den Glauben an einen Kausalzusammenhang zwischen öffentlich finanzierten medizinischen Leistungen und sinkender Sterblichkeit zu festigen. Für die englisch sprechenden Länder Großbritannien, USA, Kanada und Australien legt Tew die Grundlagen zu einer kritischen Geschichte der Geburtshilfe im 20. Jahrhundert. Es wundert mich, wie wenig das Buch - bei uns wenigstens - rezipiert worden ist.
Frau Tew beschreibt eindrücklich, wie in nur wenigen Jahrzehnten die Geburt aus einem körperlichen Vorgang, der gelegentlich schief gehen konnte, zu einem medizinischen Geschehen wurde, das deshalb professionell betreut werden muss, weil man sich auf seinen gesunden Ablauf nie verlassen kann. Dieser Bedeutungsumbruch brachte zweifellos einen langfristig angelegten Gewinn für die Geburtsmedizin und einen weitgehend endgültigen Verlust für Mutter und Kind.
In dieser Geschichte erscheint die unmittelbare Nachkriegszeit als eine Schwelle. Bis um 1950 blieb - im Unterschied zu den USA - die "gekonnte Nicht-Intervention" ("masterly inactivity") das Ideal der Elite von englischen Geburtsmedizinern - und das, obwohl sich die Klinikgeburt schon weitgehend durchgesetzt hatte. Erst danach kam es zum neuen Modell: dem programmatischen, präventiven Zugriff auf die Gesamtheit der Gebärenden zur Verwaltung ihrer Entbindung.
Dieser Paradigmenwechsel wäre ohne die davor liegende Phase kaum möglich gewesen. Denn um 1950 hatte sich die Redefinition der Geburt als eine naturgemäß "medizinische" Lebens-Situation schon solide eingebürgert - in England ebenso wie in Deutschland, auch wenn Interventionen noch jeweils einer Indikation, einer ärztlichen Begründung bedurften. Die Simulation des Operationstisches durch das Klinikbett und die Gewöhnung der Frau an die Fuß-Stützen, die auf englisch "stirrup", d. h. "Steigbügel" heißen, und die gelegentliche Fesselung ihrer Arme hatten schon in einer viel früheren Zeit begonnen. Die Autorin versucht, den iatrogenen - also medizinisch verursachten - Anteil an Evas Fluch zu isolieren. Die Verkrampfung und die Forderung, das Kind - in einer zum Blasenstein-Schnitt für den Arzt vorzüglichen Lage - gegen den Sog der Schwerkraft himmelwärts auf die Erde zu bringen, hatten schon im Laufe des Zweiten Weltkriegs den Einsatz von Mitteln gegen den so gereizten Schmerz zur Routine gemacht. Engländerinnen - ebenso wie viele deutsche Frauen - waren schon an diese unnatürliche Position gewöhnt, die den entscheidenden Beitrag zu jenen Komplikationen leistete, mit deren Beseitigung die Geburtsmedizin weitere Interventionen begründen konnte. Dammschnitt, Kaiserschnitt, Weheneinleitung, Bluttransfusion wurden schon gelegentlich eingesetzt und als medizinischer Fortschritt besprochen, sodass ihre Verfügbarkeit im Krankenhaus die Abwertung der Hausgeburt einschloss. Unter Tews Führung erscheinen die gelegentlich bizarren Neuerungen in den Gebär-Kliniken in der Zwischenkriegszeit - ganz abgesehen von ihrer Zweckdienlichkeit, Zweckwidrigkeit, Irrelevanz oder Komplikationsträchtigkeit - als symbolmächtige Mittel zur Prägung einer gesellschaftlichen Haltung: dass Gebären gestaltbar ist und endlich technisch optimiert werden wird.
Die Statistikerin lässt jedoch keinen Zweifel: Für England wenigstens reicht das statistische Material schon vor 1950 dazu aus, um jeden signifikanten Zusammenhang zwischen dieser Medikalisierung und der circumnatalen Sterblichkeit auszuschließen. "Gelegentlich sind Interventionen ohne Zweifel für den einzelnen Fall hilfreich. Aber diese Interventionen sind nur für einen Bruchteil der Geburten angemessen und haben bestenfalls ein geringes Gewicht in der Veränderung von Mortalität und auch Morbidität. Im Gegensatz dazu besteht kein Zweifel, dass viele Interventionen eindeutig schaden; sie erfordern zur Schadensbegrenzung weitere Interventionen, die oft nur weiteren Schaden tun." Die Autorin kann nach einer sorgsamen Analyse der quantitativen Daten zu einem klaren Schluss gelangen, der eine moderne Selbstverständlichkeit in Frage stellt: "Wenig oder gar nichts im Rückgang mütterlicher Sterblichkeit kann mit dem Anstieg der Proportion der Klinikgeburten in einen kausalen Bezug gestellt werden." Und schließlich: "Die Geburtsmediziner erwarteten, dass ihre Interventionen Leben gerettet haben. Die Perinatalstatistiken (1958 und 1970) und viele Studien zeigen höhere Mortalität, wenn derartige Interventionen sich häufen, als dann, wenn sie unterlassen werden."
Dennoch stiegen in den Jahrzehnten nach 1950 Zahl und Reichweite der technisch und verwaltungsmäßig möglichen Interventionen; die Kosten der Prozeduren und damit das kommerzielle Interesse an Chirurgie, Pharmakologie, Krankenhausausstattung und zunehmend Elektronik; die öffentliche Bereitschaft zur Anpassung an technische Neuerungen. Soziale Wirklichkeit wurde nicht nur im Kreißsaal zunehmend statistisch und diagrammatisch gefasst und gewertet, also in Verlaufskurven, Wahrscheinlichkeitsprofilen und Flussdiagrammen dargestellt. Parallel dazu veränderte sich das erlebte Verhältnis zwischen der Gegenwart und der Zukunft. Die Gewöhnung daran, sich an berechneten Wahrscheinlichkeiten zu orientieren, gab der Zukunft die Möglichkeit, mit ihrem Schatten das gegenwärtige Handeln zu bestimmen. Geburt konnte so als das angeborene Risiko von Frauen verstanden werden und Schwangerschaft als eine Charakteristik, die vorbeugende Maßnahmen erfordert. Und damit veränderte sich die Logik ihrer Betreuung in epochaler Weise.
Perinatale Interventionen, also Eingriffe während der Geburt, wurden nun vor allem als Prävention zur Vermeidung eines Risikos verstanden: Sie waren nicht mehr Abhilfe bei einer gegenwärtigen Unordnung oder einer akuten Gefahrensituation, sondern zielten auf die Abwendung einer berechneten Wahrscheinlichkeit. Die statistisch errechnete unerwünschte Entwicklung in der Zukunft wurde zum vorrangigen Grund für geburtsmedizinisches Handeln. "Die Geburtsmediziner suchen gezielt nach Testergebnissen bei Hochschwangeren, die mit Wahrscheinlichkeit zu perinatalen Komplikationen führen, und nach den Prozeduren, um ihnen zuvorzukommen." Die uralte Unterscheidung zwischen "Norm" und "Pathologie", die "normale" Geburten lange selbstverständlich den Hebammen vorbehalten hatte, schliff sich ab, weil nun der Vorgang selbst tiefer und gründlicher erfasst wurde als je vorher. Die Statistikerin kommt zu einem ernüchternden Fazit: "Niemals, weder in der Vergangenheit noch heute und nirgends auf der Welt haben medizinische Interventionen die Geburt für die überwältigende Mehrzahl von Müttern oder Kindern gefahrloser gemacht." Zu diesen Urteilen kommt Tew, wenn sie diesmal nicht die Situation der englischen Geburtshilfe in den fünfziger Jahren, sondern die Lage Mitte der achtziger Jahre zusammenfassend beurteilt.
Dieses Urteil ist deshalb für mich wichtig, weil die Autorin hier ausdrücklich von zwei historischen Stadien in der Geburtsmedizin spricht, die fünfunddreißig Jahre auseinander liegen. Mitte der achtziger Jahre zeigt sich ein Paradox: Die perinatalen Routinen sind sowohl selbstverständlicher wie fragwürdiger geworden; je unvermeidlicher sie für die einzelnen Frauen geworden sind, umso fragwürdiger ist für den Wissenschaftler die Gewichtung zwischen ihren erwünschten und unerwünschten Folgen. Wie aber lässt sich dann einerseits die Disziplin erklären, mit der heute die überwältigende Mehrzahl der Gebärenden sich dieser vorsorglichen Belagerung unterwirft, und wie lässt sich andererseits verstehen, dass die Frauen sich nicht empören? Ohnmacht? Fatalismus des heutigen Konsumenten? Opfer einer intensiven professionellen Propaganda? Ich schließe keinen dieser möglichen Beiträge aus; aber zur Herstellung der hier zu Tage kommenden Glaubensform, dieser treuherzigen Hingabe an die Segnungen der Klinik reicht das nicht aus. Nur ein Verständnis für die Entwurzelung, die De-Somatisierung - die darin zum Ausdruck kommt, dass eine ganze Generation von Frauen das Wissen vom Gebärenkönnen verloren hat - erlaubt es mir, an dieses Ausgeliefert-Sein heranzukommen. Nur ein Verständnis für die Suggestionsmacht versteckter Rituale kann den kritiklosen Mangel an Frust, ja Weigerung deuten.
Seit den 1950er Jahren lässt sich die Reformation der perinatalen Prozeduren, die zusammengenommen das Geburts-Zeremoniell der Klinik ausmachen, genau verfolgen. Von jeder Prozedur gibt Marjorie Tew den Zeitpunkt und die Umstände ihres Aufscheinens, die Häufigkeit ihrer Anwendung in verschiedenen Jahren, Meinungen über ihre Zweckdienlichkeit und ihre Nebenwirkungen sowie ihren Status in der medizinischen Hackordnung an. So beginnt sie mit den Entwicklungsstadien der Pharmaka, die zur Einleitung der Wehen eingesetzt werden und die es dem Klinikbetrieb erlauben, Geburten routinemäßig während der Arbeitsstunden der Werktage zu erledigen, um dann Berichte über den Nutzen dieser Neuerung für Mutter und Kind zu referieren.

Sie verfolgt die Verkürzung der Wehendauer, also die Beschleunigung von Wehen auf einen berechneten Durchschnitt - auf ungefähr zwei Drittel der traditionellen Dauer. Sie schildert die Zunahme der Episiotomie, des Dammschnitts, die weitgehend als Folge der Wehenbeschleunigung nötig wird. Sie verfolgt den Fortschritt des Kaiserschnittes, seine rasch zunehmende Häufigkeit zuerst bei gut betuchten Privatpatientinnen, dann immer mehr als einkalkulierter Regelfall; sie belegt die Selbstverständlichkeit, mit der die verschiedenen Betäubungsmittel, sehr oft vorbeugend, eingesetzt werden; schließlich stellt sie die Einführung der Herz-Kontrolle des noch Ungeborenen dar, die es erlaubt, auf einem Bildschirm mehrere Geburten zu überwachen. All dies erscheint als ein jeden vernünftigen Laien verwirrender Supermarkt, dessen NichtEinsatz an einem späteren Zeitpunkt rechtlich für den Arzt begründungspflichtig werden kann.
Als Historikerin kann ich die Frage nicht vermeiden: Was geht in diesem flächendeckenden Verwaltungsakt des weheneinleitenden Schwangerschafts-Abbruches vor sich? Womit lassen sich die biokratischen Maßnahmen vergleichen, die Kontraktionen des Uterus und Stechuhr des Personals aufeinander abstimmen? Oder die Verkürzung der Zeit, die der Frau maximal zugestanden wird? Oder die routinemäßige Erweiterung des Ausganges, wenn nicht gar seiner Nichtigkeit durch den Kaiserschnitt? Oder die Gleichgültigkeit, mit der Frauen sich bei dieser Gelegenheit betäuben lassen? Oder die Ablenkung der Helfer und auch der Frau selbst vom somatischen Erlebnis weg auf die Kurven am Bildschirm?
Vor dieser Geschichte, die bis in die späten 1980er Jahre reicht, wurde mir aber auch bewusst, wie gründlich seitdem die Mode auf "sanft" umgestellt hat: Kreißsäle sind familienfreundlich als Wohnzimmer kostümiert; Apparate werden hinter Vorhängen versteckt; psychosomatische Geburtsvorbereitung, Unterwasser-Entbindung, Laboyermassage, Yoga, der Gebärstuhl haben sich in die Routine eingeschlichen. Bloß erzwungene ärztliche Toleranz alternativen Therapieformen gegenüber wurde zuerst in den USA, langsam auch in Deutschland durch das neue Ideal der "Komplementärmedizin" überwunden: Homöopathie, Bachblüten, Akupunktur werden als notwendige Ergänzung zu immer mehr Schulmedizin von den Versicherungen übernommen. Die Miniaturisierung der Elektronik erlaubt schließlich die Technisierung der Hausgeburt. Die sich anbahnende Unterstützung der Hochtechnologie durch die Ideologie von "Natürlichkeit" besiegelt, so scheint mir, die Planung des physiologischen Endstadiums der intrauterinen Entwicklung als das "eigentliche Wesen" von "Geburt".

Was Technik sagt und nicht tut

Den Umbruch, der das rituelle Tun der Menschwerdung durch ein biotechnisches Programm ersetzt, kann ich zeitgeschichtlich nur mit Mühe ansprechen, denn auch für die meisten Historiker steht Geburt im Schatten des Risikos. Sie wird dann in der Geschichtsschreibung, was sie immer schon gewesen ist: der biologische Vorgang, mit dessen Bewältigung sich bis vor kurzem Brauch und Hebammen zu befassen hatten. Die Prozeduren, die heute bei der Geburt zur Anwendung kommen, sind für die meisten Historiker bloß neue technische Mittel, deren Kritik allenfalls in die Naturwissenschaft und nicht in die Geschichtsforschung gehört. Die Einsichten der kritischen Statistikerin werden erst dann zur wirklichen Herausforderung, wenn sie zur Distanzierung der Historikerin von ihrem eigenen somatischen Selbstbewusstsein eingesetzt werden. Dazu aber muss die Historikerin bereit sein, die heute erlebte Wirklichkeit als Folge der symbolischen Prägekraft von technischen Prozeduren zu verstehen.
Studien wie die von Marjorie Tew, William Arney, Ann Oakley bereiten die Quellen auf. Sie zeigen, dass die Bewertung der perinatalen Prozeduren und Routinen auf zwei auseinander strebenden Ebenen vor sich gehen muss. Auf der ersten Ebene stellt sich die Frage: Wie zweck-gerecht oder wie kontra-produktiv ist jede dieser Interventionen im Dienst der biotechnischen Synthese von biologischem Ablauf und medizinischer Zielsetzung? Auf der zweiten Ebene liegt die Frage, die ich stellen will: die Untersuchung und Bewertung von dem, was Prozeduren nicht als Technik leisten, sondern was sie als Rituale ideologisch schaffen. Welche Überzeugung wird durch die Politik der globalen Standard-Betreuung durchgesetzt? Ich will wissen, welche Gewissheiten durch diese Routinen entstehen - was sie also sagen, neben dem, was sie vergeblich tun.
Wenn ich diese Frage stelle, dann wird Folgendes offensichtlich: Die "Geburt" heute ist in ein dichtes rituelles Geflecht eingefügt, in dem sich die Mehrzahl der Frauen fast zwangsläufig verfängt. Jede Prozedur, vom ersten Bluttest bis zur letzten Eintragung im Mutterpass, prägt einen Glaubenssatz - den Mythos über eine Gefahr, die technisch gebannt werden soll. Jede Zeremonie, die sich in die Geburtsliturgie reiht, beschwört eine Angst und macht den Vorgang der Geburt jedes Jahr beängstigender. Denn mit jeder dieser risikoorientierten Zeremonien wird jeder Gebärenden das medizinische Urteil verkündet, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, vor deren Folgen sie gefeit werden soll, schon in ihr steckt. Jede der rituell beschworenen Ängste liefert die Frau einer neuartigen Hilflosigkeit aus: nicht auf "ihre Natur", nicht auf die Hebamme oder die Mutter Gottes kann sie hoffen; sie kann sich nur dem zusätzlichen Risiko der angebotenen Routinen unterwerfen. Geburt ist nicht mehr etwas, das Frauen können, sondern etwas, wozu sie in einem verwaltenden sozialen Vorgang gebraucht werden. Nicht ein selbstbewusstes Tun, sondern eine Lebenskrise, die nur durch Dienstleistungskonsum zu überstehen ist.
Tew schreibt: "Auf den meisten Gebieten des gekonnten Tuns war, ist und bleibt Selbstvertrauen und Vertrauen entscheidend, und von keinem Tun gilt das mehr als dem Gebären, bei dem der physiologische Vorgang einzigartig von der psychologischen Haltung determiniert wird." Was die gynäkologischen Prozeduren beinahe unwidersprechlich einbläuen, ist die Abhängigkeit der Schwangeren von den Dienstleistungen der Geburtsmedizin, die Sicherheit bietet. Und was dabei herauskommt, bestätigt wohl meine Intuition: Es ist keine "Geburt". Im Spiegel der Vergangenheit sehe ich's:

So wie die Nachkriegszeit von Ungestillten bevölkert wurde,
so wimmelt die Jetztzeit von Ungeborenen.


Erschienen im Hebammen Forum 2000
www.hebammen-forum.de